Dies ist die deutschsprachige Version von Iain Abernethys Original-Artikel "The Four Stages of Kata Practise", übersetzt von Marc Janott, veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Die Vier Stufen des Kata-Trainings
(von Iain Abernethy, 13. April 2010 - übersetzt von Marc Janott, Januar 2019)
Praktisch jeder Karateka übt Kata; doch die meisten trainieren lediglich die erste Stufe und entwickeln daher kein ausgereiftes und umfassenderes Verständnis dessen, was Kata eigentlich zu bieten hat.
In diesem Artikel werden wir alle vier Stufen des Kata-Trainings betrachten.
Die erste Stufe ist das Üben der Solo-Form – und für die meisten Leute ist es das, was sie allgemein unter Kata-Training verstehen. Zuerst lernen wir den Bewegungsblauf der Kata; wie man den Körper möglichst effizient bewegt, die richtige mentale Einstellung usw.
Diese Stufe des Kata-Trainings ist sehr wichtig. Wer schon ohne Gegner nicht in der Lage ist, die Kata-Bewegungen effizient umzusetzen, der hat nicht die geringste Chance, die Techniken wirkungsvoll gegen einen aggressiven Gegner einzusetzen, der einen wirklich verletzen will.
Die meisten heutigen Dojos gehen über die Anfangsstufe des Kata-Trainings nicht hinaus und bleiben beim Solo-Training stehen. Einer der Hauptgründe dafür ist, dass die Qualität einer Kata häufig nur nach ihrer äußeren Form beurteilt wird: Die Kata ist gut, wenn sie gut aussieht! Aber nur das Aussehen zu betrachten kann ja nicht alles sein, wenn man bedenkt, dass die Katas eigentlich einen funktionalen und praxistauglichen Sinn haben.
Aus meiner Sicht ist es besser zu beurteilen, wie praxisnah der Karateka die Kata beherrscht: Wenn er die Techniken erfolgreich anwenden kann, dann ist seine Kata gut – egal wie sie aussieht. Bitte nicht falsch verstehen; ich sage keineswegs, dass schwache Solo-Darbietungen akzeptabel sind, sondern nur dass das Ziel immer die Funktion sein sollte, nicht das Aussehen. Praxistaugliche Katas sehen oft auffallend gut aus, aber die Ästhetik der Kata ist im Grunde ein bedeutungsloses Nebenprodukt, und eben nicht der ganze Sinn des Kata-Trainings.
Gichin Funakoshi (der Begründer des Shotokan-Karate) schreibt in seinem Buch „Karate-Do Kyohan“: „Wenn eine Kata einmal gelernt ist, muss sie wiederholt geübt werden, bis sie in einem Notfall angewendet werden kann; denn im Karate nur den Ablauf einer Kata zu kennen, ist nutzlos.“ Obwohl das Solo-Training einer Kata sehr wichtig ist, sollte man doch sehen, dass Kata-Training mehr ist als nur das. Wie Funakoshi selbst sagt: Wenn man die Techniken nicht tatsächlich in Notwehr anwenden kann, bringt es überhaupt nichts, bloß den Ablauf der Solo-Form zu kennen. Wir müssen in unserem Training weitergehen und auch die weiteren Stufen hinzunehmen.
In der zweiten Stufe des Kata-Trainings befassen wir uns mit den praktischen Anwendungen der Kata-Bewegungen (Bunkai). Die Kata-Techniken anzuwenden, muss mit einem Trainingspartner geübt werden.
An dieser Stelle lohnt sich wahrscheinlich der Hinweis, dass realistisches Bunkai etwas anderes ist als die weithin üblichen choreographierten Kämpfe, bei denen Karateka gegen Karateka aus der Langdistanz gegeneinander antreten. Die Katas waren niemals dafür vorgesehen, gegen andere Karateka zu kämpfen; sie sollten realistische Techniken zur Selbstverteidigung im zivilen Umfeld (Notwehr) abbilden. Echte Angreifer nehmen keinen Stand ein und gehen dann aus 3 Metern Entfernung vor mit Oi-Zuki! Wenn wir akzeptieren, dass die Katas für die Selbstverteidigung entworfen wurden, dann sollten wir uns auch einig sein, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass wir in der Realität von einem anderen Karateka angegriffen werden, geschweigedenn von einem, der seine Techniken in solch stilisierter und formaler Weise ausführt (und falls das doch passieren sollte, ist das ein echter Glücksfall!).
Die Anwendungen der Kata sollten einfach sein, auf den Nahbereich ausgelegt und nicht davon abhängig, dass der Angreifer bestimmte Aktionen auf eine bestimmte Weise ausführt.
Hat man die praxistauglichen Anwendungen der Kata-Techniken einmal verstanden, sollte man anfangen, auch Variationen dieser Techniken zu trainieren. Es sei daran erinnert, dass eine Kata dafür da ist, ein komplettes, eigenständiges Kampfsystem abzubilden. Allerdings wäre es schlecht möglich, jeden einzelnen Aspekt des Systems aufzuzeichnen, oder die Kata würde unfassbar lang. Es wäre viel besser, einige repräsentative Techniken auszuwählen, die die wesentlichen Prinzipien des Systems gut auf den Punkt bringen.
Ein Bild, das ich gerne benutze, um zu erklären, wie eine Kata ein vollständiges System überliefern kann, ist das eines Eichenbaums (ich entschuldige mich bei allen, die das schon mal gehört haben). Eichen werden ernorm groß und enorm alt, aber alles, was den Baum ausmacht, alles, was nötig ist, um ihn zu vermehren, steckt in einer einzelnen Eichel. Weder die Eichel, noch eine Kata sind so groß wie das, woraus sie hervorgingen, aber sie geben es perfekt weiter. Damit aus einer Eichel ein ganzer Baum wird, muss sie fachmännisch gepflanzt und gepflegt werden. Damit aus einer Kata ein Kampfsystem wird, muss sie fachmännisch erforscht und geübt werden. Hier zeigt sich eine der größten Schwächen im modernen Karate, nämlich, dass die Katas selten ausreichend erforscht werden. Um im Bild zu bleiben: Wie haben die Saat, aber wir bringen sie nicht zum Keimen.
Hironori Otsuka (Begründer des Wado-Ryu-Karate) schrieb seinerzeit: "Es ist klar, dass diese Katas ausreichend trainiert und geübt werden müssen, aber man darf nicht darin 'hängenbleiben'. Man muss die Kata verlassen, um Formen ohne Grenzen zu entwickeln, oder sie wird nutzlos. Es ist wichtig, die Form der trainierten Kata ohne zu zögern zu verändern, um zahllose andere Trainingsformen zu entwickeln. So wird es über lange Zeiten des Trainings zur Gewohnheit. Weil es Gewohnheit ist, kommt es ohne zu zögern hervor – aus dem Unbewussten heraus." (Otsuka, "Wado-Ryu Karate"). Ich glaube, dass Otsuka uns sagt, dass wir üben sollen, die Anwendungen der Kata zu variieren, weil wir sonst Gefahr laufen, in der Form (Kata) "hängenzubleiben" und uns als Kämpfer somit einschränken. Wir müssen Otsukas Rat folgen und so üben, dass wir die Kata in jeder Lage, in der wir uns wiederfinden, ohne zu zögern einsetzen können.
Katas zeigen gute Beispiele der Kernprinzipien des abgebildeten Kampfsystems. Katas beinhalten nicht jede einzelne Technik, Kombination und Variation des gesamten Systems! Wie könnten sie auch? Um das meiste aus der Kata herauszuholen, müssen wir üben, die Techniken der Kata zu variieren und zwar im Sinne der Prinzipien, für die die Techniken stehen. Dies ist die dritte Stufe des Kata-Trainings.
Die vierte und am meisten vernachlässigte Stufe ist es, die Techniken, Variationen und Prinzipien der Kata im freien Fluss einzusetzen. Der einzige Weg, um sicherzustellen, dass man die Techniken im Ernstfall frei anwenden kann, ist es, die Techniken in freier Anwendung zu üben. Wir müssen Übungskämpfen ohne Vorgaben von Technik oder Distanz in unser Training aufnehmen, wenn sich unser Kata-Training wirklich lohnen soll. Egal wieviel man alleine übt oder die Techniken mit einem mithelfenden Partner durchgeht, dadurch wird man niemals die Fähigkeiten entwickeln, die man braucht, um das, was man gelernt hat, im Ernstfall frei anzuwenden.
In den letzten Jahren sehen wir, dass mehr und mehr Karateka Bunkai-Übungen in ihr Training aufnehmen. Das ist sehr zu begrüßen, und doch ist es nur wirklich sinnvoll, wenn wir einen Schritt weiter gehen und uns mit Kata-based Sparring (Kata-basierte Partnerarbeit) beschäftigen (siehe meine Bücher "Bunkai-Jutsu" und "Karate's Grappling Methods" [sowie meine DVD "Kata-Based Sparring"] für weitere Einzelheiten.
Frei fließendes Partnertraining ("Live Sparring") und die Solo-Übung einer Kata mögen völlig unterschiedlich aussehen, aber letztlich sind sie ein und dasselbe. Man kann sich die Kata wie einen Eisblock vorstellen. Die Form des Eisblocks bleibt immer gleich. Gibt man jedoch Hitze dazu, wird das Eis zu Wasser und seine Form passt sich den Gegebenheiten an. Der Eisblock und das frei fließende Wasser mögen ganz unterschiedlich aussehen, aber sie sind letztlich ein und dasselbe (die selben Moleküle aus Wasserstoff und Sauerstoff). Genauso sehen die Techniken in der festen Form (Kata) anders aus als wenn sie in einem sich ständig ändernden, frei fließenden Kampf angewendet werden; sie sind aber letztlich identisch (dieselben Kampfprinzipien).
Obwohl die vier Stufen des Kata-Trainings unterschiedlich aussehen, ist es entscheidend zu verstehen, dass sie alle im Kern identisch sind. Alle vier Stufen sind "Kata", nicht nur die Solo-Übung.
Diese vier Stufen gibt es natürlich nicht bloß im Karate. Beim Boxen zum Beispiel wird einem Schüler zuerst beigebracht, wie die grundlegenden Schläge funktionieren (Stufe eins). Dann übt er diese Schläge gegen Sandsack, Pratzen und mithelfende Partner in Schutzausrüstung (Stufe zwei). Wenn er das gut kann, übt der Schüler Kombinationen, die Übergänge zwischen den Schlägen usw. (Stufe drei). Und schließlich steigt er in den Ring und wagt einen echten Kampf (Stufe vier).
Das Lernen beginnt mit Stufe eins und geht weiter bis Stufe vier, doch sollte man daran denken, dass man die vorangegangenen Stufen nicht hinter sich lässt, sondern ebenfalls übt. Stufe-vier-Training kommt der Wirklichkeit zweifellos am nächsten, dennoch sollte man die anderen drei Stufen nicht hinter sich lassen, wenn man einmal beim Kata-based Sparring angelangt ist. Das Üben der Solo-Form erlaubt uns, Technik, Visualisierung und Geisteshaltung zu verfeinern, frei vom Druck durch einen Partner (es ist außerdem eine gute Übungsform, wenn unsere Trainingspartner mal nicht zum Training kommen können). Das Üben der Bunkai (Stufe zwei) und Variationen (Stufe drei) helfen ebenfalls, uns technisch zu verbessern. Als Kämpfer wird man außerdem vielseitiger, denn durch Stufe-drei-Training wächst das Verständnis für die Kernprinzipien der Kata. Und während die Fähigkeit wächst, die Kata-Techniken im freien Fluss anzuwenden, verbessert sich umgekehrt auch die Qualität unserer Solo-Form, denn die Kata ergibt immer mehr Sinn und wird immer tiefgründiger.
Die Katas sind wahre Meisterwerke, die dem praxisorientierten Karateka eine ganze Menge zu bieten haben. Um einer Kata alles zu entlocken, was sie zu bieten hat, müssen wir die Kata in ihrer Gesamtheit üben. Auch wenn die Solo-Übung der Kata sehr wichtig ist, stellt sie doch nur die Einstiegsstufe dar. Erst wenn man von der Solo-Form weitergeht und die nächsten Stufen nimmt, wird klar, wie praxistauglich und ganzheitlich Karate sein kann.
Zum Schluss möchte ich Euch danken, dass Ihr Euch die Zeit genommen habt, diesen Artikel zu lesen. Ich hoffe sehr, dass Ihr ihn nützlich findet.
Siehe auch
- Mehr Original-Artikel von Iain Abernethy (Englisch)
- Kata-Oyo Bunkai-Kumite von Marc Janott
- Selbstverteidigungs-Kumite von Marc Janott
- Bunkai-Regeln von Marc Janott
- Was ist an Karate so besonders? von Marc Janott